Oscar Wilde, Aufnahme von N. Sarony © Wikipedia

Kunst vor dem Kadi

 

Seit der Renaissance sind es oftmals Richter gewesen, die darüber zu befinden hatten, ob ein Kunstwerk Kunst sei und wer als Künstler zu gelten habe. Zwei Kunstliebhaberinnen haben daraus ein Buch über die vielen kleinen Kunstgeschichten gemacht, die am Ende Geschichte schrieben.

 

Napoleon war schuld, dass die Fotografie in den Vereinigten Staaten zu einer Kunstform erhoben wurde. Genauer gesagt war es Napoleon Sarony (1821–1896). In seinem Atelier auf dem New Yorker Broadway, wo sich der Mann aus Quebec niedergelassen hatte, gingen prominente Zeitgenossen ein und aus, um von sich Porträtfotos anfertigen zu lassen. Sarony verkaufte diese Fotografien in hoher Auflage, was ihn zu einem reichen Mann machte und seinen Fotomodellen viel Star-Ruhm bescherte. Oscar Wilde war einer dieser Prominenten, der sich 1882 von ihm ablichten ließ. Ein Bild, das anschließend umso berühmter wurde, als es heimlich von Saronys Konkurrenten, der Lithographischen Gesellschaft Burrow-Giles, vervielfältigt, gedruckt und verkauft wurde – insgesamt rund 85.000 Kopien. Sarony ging vor Gericht, reklamierte seine Urheberansprüche und machte deutlich, dass er als Fotograf schließlich Künstler sei, da er das Model in Szene gesetzt, die Kostüme und die Ausstattung ausgewählt und auch für die richtige Lichtstimmung gesorgt hatte. Ein erstes Urteil gab ihm recht. Burrow-Giles wiedersprach dem jedoch und brachte die Angelegenheit vor das höchste Gericht mit dem Argument, dass eine Fotografie ein rein mechanischer bzw. chemischer Vorgang sei, aber kein künstlerischer Akt. Am 17. März 1884 wies das höchste Gericht diesen Einspruch zurück und gestand Sarony das alleinige Urheberrecht an seinen Fotografien zu. In Frankreich musste man dagegen noch ein Jahrhundert auf das sogenannte Lang-Gesetz von 1985 warten, das für die Fotografie ein Urheberrecht vorsah.

 

Das ist nur eine der vielen interessanten und manchmal "schlüpfrigen" Geschichten, von denen Céline Delavaux, Literaturwissenschaftlerin, und Marie-Hélène Vignes, Anwältin und leidenschaftliche Verfechterin des Rechtes auf geistiges Eigentum, in ihrem Buch "Kunstprozesse" berichten ("Les Procès de l'art", Edition Palette, Dezember 2013). Ein unterhaltsames Werk, das zeigt, dass Richter selbst zwar keine Kunstgeschichte schrieben, aber dennoch nicht unerheblich dazu beitrugen. Marie-Hélène Vignes, die zwölf Jahre in ihrem Fachgebiet an der Universität Paris-III unterrichtete, hatte schon länger das Fehlen eines solchen Buches in Frankreich bedauert. "Es gibt derartige Bücher in Großbritannien, zum Beispiel "The Trials of Art" von Daniel McClean, oder in den Vereinigten Staaten das Buch "Kunst vor Gericht" von Laurie Adams. Interessanterweise kann man feststellen, dass Richter in diesen Ländern oftmals weniger verständnisvoll gegenüber Künstlern sind als hierzulande." Französische Richter würden eine gewisse Faszination für Künstler an den Tag legen "aufgrund einer ziemlich romantischen Vorstellung von Kunst."

 

Was ist Kunst?

Am Anfang stand die Frage: Was ist ein Künstler? Für Kunsthistoriker entstand diese Berufsbezeichnung erstmals in der Renaissance. Richter hatten offenbar auch erst seit jener Zeit mit dem Begriff zu tun. Das legt zumindest der älteste Kunst-Gerichtsprozess des Buches nahe, nämlich der von Veronese, der 1573 vor dem Inquisitionstribunal in Venedig erschien und schon damals für die Kunstmaler eine besondere Stellung in Anspruch nahm. Ungefähr 350 Jahre später stellt sich diese Frage von neuem, diesmal im New York des Jahres 1928. Der rumänisch-französische Bildhauer Brancusi konnte durchsetzen – nicht gegenüber den Dominikanermönchen wie Veronese, sondern vor den Verantwortlichen der US-amerikanischen Zollbehörden –, dass seine abstrakten Bronze-Skulpturen als Kunstwerke anzuerkennen seien. Eine damals wie heute unsichere Angelegenheit für einen Künstler, wie es die "Panne" einer Londoner Galerie zeigt, die 2006 ein Video von Bill Viola und eine Licht-Skulptur von Dan Flavin einführen wollte, die 2010 jedoch von der Europäischen Kommission als "Beleuchtungsanlage zur Wandmontage" klassifiziert wurde. Für Marie-Hélène Vignes ein "echter Rückschritt".

 

Paolo Veronese, Selbstporträt © Wikipedia

Zweifellos war es diese Unsicherheit, die den ehemaligen Minister für Kultur wie auch für Justiz Jacques Tourbon dazu brachte, auf Einladung des Bildhauers Olivier Blanckart im März 2009 öffentlich vor den Studenten der Staatlichen Hochschule für Rechtswesen von Bordeaux Stellung zu beziehen. Tourbon, wie schon Blanckart an anderer Stelle, bemängelte die seiner Auffassung nach falsche Auslegung des neuen Strafrechts durch die Richter aus Bordeaux. Die Organisatoren der Ausstellung "Vermutlich unschuldig", die im Jahr 2000 einige anstößige Werke im Museum für zeitgenössische Kunst von Bordeaux präsentierten, wurden nämlich aufgrund einer Beschwerde strafrechtlich verfolgt. Das Motiv: "Verbreitung von Bildern eines Minderjährigen mit pornographischem Charakter" sowie "Verbreitung von gewaltverherrlichenden, pornographischen und die Menschenwürde verletzenden künstlerischen Positionen, die von Minderjährigen gesehen werden könnten." Nach einem zehnjährigen Prozessverlauf, der bis vor das oberste französische Gericht führte, profitierten die Kunstaussteller von der Einstellung des Verfahrens, da der Gerichtshof daran erinnerte, dass ein Werk, das eine künstlerische Position hat, überraschen, betroffen machen oder schockieren darf. Es darf nur dann pornographisch genannt werden, sofern es sich um eine grobe Darstellung von Sexualität handelt, die das Taktgefühl verletzt und einzig darauf abzielt, den Betrachter zu erregen. Man muss an dieser Stelle noch immer daran erinnern, dass Pornographie an sich nicht strafbar ist. Sie wird es erst, wenn sie Kindern zugänglich gemacht wird – was hier nicht der Fall war. Für den Anwalt eines der Beschuldigten hat "die Justiz damit die Freiheit der Kunst geschützt".

 

Céline Delavaux und Marie-Hélène Vignes zollen in ihrem Buch von den "kleinen Kunst- und den großen Rechtsgeschichten" (so der Untertitel des Buches) der Arbeit der Richter durchaus hohen Respekt. "Richter schreiben zwar keine Kunstgeschichte, aber ich glaube, dass sie zumindest dazu beitragen, dass die Kunst, die gesellschaftliche Stellung von Künstlern anerkannt und die Bedeutung, wenn nicht gar die Unentbehrlichkeit von Kunstwerken erkannt wurden", beschreibt Marie-Hélène Vignes ihre Einschätzung. Sie erinnert daran, dass es das Urheberrecht in Frankreich erst seit der Französischen Revolution gibt. "Es gab zwei Dekrete, eines 1791, das andere 1793, die zum ersten Mal den Künstlern Rechte zugestanden, zunächst einmal rein vermögensrechtliche. Diese beiden knappen Texte blieben bis 1957 in Kraft, als ein anderes Urheberrechtsgesetz für Werke der Literatur und der Kunst aufkam." Zwischen beiden Zeitpunkten und Rechtstexten hat sich das gesamte Recht, insbesondere das Urheberpersönlichkeitsrecht des Künstlers, nur auf der Basis von Präzedenzfällen entwickelt, die aus der täglichen Arbeit der Richter resultierten. Diese Richter haben es verstanden, dass es sich bei Kunst nicht um ein Gut wie jedes andere handelt, das man auf dieselbe Art und Weise verkaufen kann wie eine andere Sache, da es untrennbar mit seinem Urheber verbunden bleibt.

 

Sind Künstler gewöhnliche Dienstleister?

Als Beispiel dafür kann man den Prozess Jean Dubuffet gegen das Unternehmen Renault zitieren, der Mitte der Siebziger Jahre vor dem Hintergrund einer Kunstausstellung im Salon d'Été geführt wurde: eine monumentales Skulptur, die im Auftrag des Firmenchefs von Renault, Pierre Dreyfus, geschaffen wurde, das aber dessen Nachfolger missfiel, weshalb dieser es von Bulldozern begraben ließ. Dubuffet berief sich auf sein Persönlichkeitsrecht, so wie es im Gesetz von 1957 in Bezug auf literarische und künstlerische Werke kodifiziert wurde. Die Anwälte beider Parteien stritten heftig. Und es war ein Rechtsprofessor, Henri Desbois, der dieses Recht auf die Spitze trieb. "Debois nannte man den Urheberrechtspabst", erinnert Marie-Hélène Vignes, "der die Bosse von Renault hart anging: Wenn man sich an einen Künstler wendet, so ist das nicht dasselbe, als würde man einen x-beliebigen Lieferanten beauftragen, um seine Bestellung aufzugeben! Er ist kein Dienstleister wie jeder andere, so sein Argument."

 

Céline Delavaux zeigt ebenfalls eine große Sympathie für das Richteramt, zu dem sie selbst nicht gehört. "Ich habe entdeckt, dass sich Richter gegenüber Kunstwerken sehr feinfühlig zeigen. Das gilt auch bei der Suche nach rechtlichen Argumenten, was einem Kritiker oder Kunsthistoriker niemals in den Sinn käme. Im Rechtsstreit Bernard Buffet (in dem es um einen von allen Seiten bemalten Kühlschrank ging, den sein Besitzer auseinandernehmen wollte, um die Seitenwände einzeln zu verkaufen), ging es um die Frage: Darf man ein Kunstwerk auseinandermontieren? Ein Anwalt sucht nach vergleichbaren Fällen in der Kunstgeschichte. Er beruft sich beispielsweise auf ein Gemälde von Delacroix, auf dem George Sand und Chopin zu sehen sind – ein Bild, das man in zwei Teile zerschnitten und Sand in das eine, Chopin in ein anderes Museum gesteckt hat. Es gibt zahlreiche vergleichbare Rechtsfälle. Jede Gerichtsverhandlung ist wie ein kleines Theaterstück. Der Fall Brancusi, zum Beispiel, liefert ein filmreifes Drehbuch, das sich nicht weiter verbessern lässt."

 

Rachel, Zeichnung von F. O'Connell © Wikipedia

Einer Toten, der Schauspielerin Rachel, und nicht zuletzt Anwälten, verdankt man beispielsweise die Entstehung des Rechtes am eigenen Bild, das es seit 1858 gibt – dem Todesjahr der Schauspielerin. Ein Fotograf fertigte ein Bild des Begräbnisses an, das als Vorlage für eine Zeichnung von Frédérique O'Connell diente, deren Zeichnung wiederum fotografiert wurde, um als Foto in vielen hundert Exemplaren vom Verlag Goupil vertrieben zu werden. "Rachel, zusammen mit Sarah Bernhardt, war eine der frühesten Vertreterinnen des damals entstehenden Star-Kultes", erinnern sich die Autorinnen. "Sie starb jung an Tuberkulose, was eine große Anteilnahme hervorrief. Als ihre Familie sah, dass mit dem Foto Geschäfte gemacht wurden, obwohl es eigentlich für den engsten Familienkreis bestimmt war, hat es sie traumatisiert. Es war dieser Vorfall, weshalb Anwälte das Recht am eigenen Bild schufen. Es handelt sich dabei um eine rein juristische Schöpfung, die mehr als 100 Jahre gut funktioniert hat. Erst 1970 wurde dieses Gesetz als französisches Recht schriftlich festgehalten – in einer Zeit, als die Boulevardpresse entstand.

 

Im Verlaufe des Buches kann man feststellen, dass sich die Justiz mit den unterschiedlichsten Kunstformen befasst hat. Zum Beispiel mit abstrakter Kunst – wie beim Fall Brancusi; mit Kunst im öffentlichen Raum – wie bei Daniel Buren (der ein "einträglicher" Mandant von Anwälten ist, da er in wenigstens drei Fällen involviert ist, von denen im Buch die Rede ist); mit dem Fall Richard Serra gegen die Vereinigten Staaten, da eine seiner Skulpturen, die er für einen bestimmten Ort geschaffen hatte, einfach an einen anderen Ort verbracht wurde. Oder auch mit Konzeptkunst, wenn man unter diesem Begriff den Rechtsstreit zwischen dem Bildhauer Jakob Gautel und der Fotografin Bettina Rheims fassen kann. Rheims hat sich bei einer ihrer Fotografien an einem Kunstwerk des Bildhauers "bedient", das sich im Türgiebel eines Krankenhauses befindet, in den Gautel das Wort "Paradies" geschrieben hatte. Musste sie auf dessen Urheberrecht Rücksicht nehmen? Die Richter meinten Ja. Andere Rechtsgelehrte befassten sich mit Installationen, beispielsweise jener, die Hong-Yön Park aus Damenbinden schuf, die in der Kapelle Saint-Louis de la Salpêtrière ausgestellt wurde. Den Mitgliedern der Gesellschaft der Freunde der Salpêtrière missfiel dieses Kunstwerk derart, dass sie es ohne Aufhebens kurzerhand entfernten. Andere Richter hatten mit Performances zu tun: Alberto Sorbelli beispielsweise stellte sich verkleidet im Louvre vor der Mona Lisa zur Schau und wurde dabei von Kimiko Yoshida fotografiert. Am Ende beanspruchte der eine die Urheberschaft der Performance, die andere forderte hingegen das Recht am Bild ein.

 

Berühmte und weniger berühmte Rechtsfälle – alle gleichermaßen erstaunlich und "oftmals ungewöhnlich", bemerkt Céline Delavaux. Wie der Kuss auf einer weißen Leinwand von Cy Twombly (2007 wurde die junge Künstlerin Rindy Sam verklagt, mit Lippenstift eine Leinwand geküsst zu haben, die von der Fondation Lambert d'Avignon verwahrt wird). Oder die Aktionen von Pinoncelli gegen das Ready-made "Fontaine" von Marcel Duchamp (das berühmte Pissoir wurde von Pinoncelli zunächst seiner "ursprünglichen Bestimmmung" zugeführt, dann mit einem Hammer zerschlagen). Marie-Hélène Vignes kommt zum Schluss: "Es sind oftmals große philosophische oder ästhetische Fragen, denen sich Richter stellen müssen. Wenn man einmal von der Tatsache absieht, dass sie – im Gegensatz zu den anderen Professionen, die ebenfalls eine Meinung dazu haben – tatsächlich eine Meinung haben müssen, wenn Urteile wie diese zu fällen sind: "Ja, es ist eine geistige Schöpfung – oder nicht. Ja, er ist der Schöpfer des Kunstwerks – oder auch nicht."

 

Übersetzung des Originalartikels "Des oeuvres devant les juges" von Harry Bellet,

© Le Monde 8. Februar 2014

Übersetzt und aufgepimpt: © Marcus Schmitz