Links: Edvard Munch. Sternennacht, 1922-1924. © Munch Museum. Rechts: Vincent van Gogh. Sternennacht über der Rhône, 1888. © Musée d’Orsay, Paris.

Edvard und Vincent: mit brennenden Pinseln

 

Das Munch Museum Oslo und das Van Gogh Museum Amsterdam stellen die Werke von Munch und Van Gogh in zwei Ausstellungen einander gegenüber und zeigen die Gemeinsamkeiten ihrer künstlerischen Wege.

 

Weil der eine 1890 jung und unbekannt gestorben ist, während der andere 1944 in hohem Alter als gefeierter Künstler verstarb, denkt man zunächst nicht an irgendwelche Gemeinsamkeiten: Vincent van Gogh und Edvard Munch waren Zeitgenossen und altersmäßig nur 10 Jahre auseinander. Der erste wurde 1853 in den Niederlanden geboren, der zweite 1863 in Norwegen. Ende der 1880er Jahre gehörten sie zum Kreis jener Maler, die sich nicht mehr mit dem künstlerisch Althergebrachten abfinden wollten. Und beide entwickelten sich in dieselbe Richtung fort, die vor ihnen schon die Impressionisten gegangen waren.

Wenn wir unsere Phantasie spielen lassen, können wir uns vorstellen, dass sich beide in Paris hätten treffen können. Van Gogh kam im Februar 1886 dorthin und hatte Frankreich seitdem nicht mehr verlassen. Munch hielt sich dort 1885 auf, dann viele Male zwischen 1889 und 1892. Da er aber regelmäßig in den Sommermonaten in seine Heimat zurückkehrte, gab es kaum echte Gelegenheiten, einander über den Weg zu laufen, zumal Van Gogh auch schon 1890 Selbstmord beging. Beide Künstler sind sich, wir mögen es aufrichtig bedauern, nie begegnet, was uns aber nicht davon abhält uns vorzustellen, welche Gespräche sie wohl geführt hätten. Vielleicht hätten sie über Manet gesprochen, oder über Monet, Pissarro und Seurat, den Schöpfer des Neo-Impressionismus. Vielleicht hätte Van Gogh gegenüber Munch den Namen Gaugin erwähnt. Und zweifellos wären sie sich darin einig gewesen, dass die klassische akademische Ausbildung in den Schönen Künsten nichts weiter als deprimierend und altmodisch sei. Als Szenerie dieser fiktiven Gespräche dürfen wir uns gern eine Brasserie auf dem Montmatre vorstellen oder vielleicht sogar während eines Spaziergangs durch die herrliche Hügellandschaft bei Saint-Claude im Departement Jura, wo sich Munch 1889 aufhielt.

 

Das Leuchten und das Feuer

Alles nur Fiktion! Munch zumindest hatte in späteren Jahren Van Gogh seine Reverenz erwiesen und die Parallelen zwischen ihnen beiden angedeutet. 1933 notierte er: „Während seines kurzen Lebens hatte Van Gogh die Flamme niemals erlöschen lassen. Aus seinem Pinsel strömten leuchtende, feurige Farben während der wenigen Jahre, in denen er sich für seine Kunst vollkommen verzehrte. Während meines langen Lebens und mit größeren finanziellen Möglichkeiten ausgestattet, habe ich mich wie er ebenfalls bemüht, meine Flamme nicht erlöschen zu lassen und ich werde bis zuletzt mit brennendem Pinsel malen.“ Es ist nicht ganz unwichtig zu erwähnen, dass Munch diese Zeilen im Herbst 1933 geschrieben hat. In jener Zeit ereignete sich eine weitere Parallele in ihrem Leben: Ihre Werke wurden nach und nach aus deutschen Museen entfernt, die sie seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts noch in großem Stil gesammelt hatten. Bald wurden beide zu „degenerierten Künstlern“ erklärt.

 

Es gibt zahllose Gründe, die Werke beider Künstler gemeinsam auszustellen und sie miteinander in Austausch treten zu lassen. Tatsächlich wurde aber erst in der gegenwärtigen Zeit dieser Versuch unternommen – als ein gemeinsames Projekt des Munch Museet Oslo und des Van Gogh Museum Amsterdam. Die Ausstellungen, die auf jeweils umfangreiche Museumsbestände zurückgreifen können und die durch amerikanische und europäische Leihgaben ergänzt werden, findet zunächst in Norwegen statt, bevor sie im Herbst 2015 in den Niederlanden gezeigt wird. Sie ist als eine Ausstellung mit zwei Schwerpunkten konzipiert: Die erste konzentriert sich auf die 1880er Jahre und zeigt, wie sich beide der damals vorherrschenden Konventionen entledigten: der gut gemachten Imitation der Realität mit ihren dezenten Farbharmonien – bei Van Gogh überwogen noch die dunklen Farben, während Munch nahezu reinweiße Töne bevorzugte.

 

Ohne voneinander zu wissen, stimmten beide in vielen Punkten überein: Nicht mehr mythologische oder religiöse Themen waren es, die sie als Künstler bewegten, sondern Motive aus dem Alltag selbst, wie die Kartoffeln essenden Bauern, eine auf ihrem Bett sitzende Frau, einen Weber, das Innere einer Amtsstube. Alltäglichkeiten also, aber solche, die ihre Erregung und ihre Leidenschaften herausforderten. Sie waren nicht länger bereit, sich mit lieblichen Porträts zufrieden zu geben, mit schön anzuschauenden Genrebildern oder realistisch gemalten Landschaften. Sinnigerweise wird die Ausstellung durch Bilder weiterer Künstler und Geistesverwandte ergänzt – des Franzosen Millet, des Holländers Israel und des Norwegers Krohg, alle drei kompromisslose Realisten. Dass auf diese drei Maler die Generation um Manet, Monet und Pissarro folgte, erscheint geradezu notwendig.

 

Als Van Gogh und Munch in Paris ankamen, wurden sie unmittelbar mit einer neuen Sicht auf die Welt konfrontiert, die moderner, direkter und weniger sentimental war als die eines Millet. Diese neue Sichtweise brachte chromatische Kontraste mit einer viel größeren Spanne als noch zuvor, die komprimiertere und schematischere Formen zur Folge hatte. Das alles führte zu stärkeren malerischen Gesten, sichtbareren Pinselstrichen und zu einer Maloberfläche, die mehr vom Zufall und von Spontaneität geprägt war. Nicht mehr nur Andeutungen, sondern die ungeschönte Zurschaustellung des Gegenstandes war gefragt. Die Malerei war nicht länger eine Sache des guten, des kunstsinnigen Geschmacks, sondern eine persönliche Ausdrucksform, die aber auch den Betrachter, Menschen wie du und ich, anzusprechen imstande war – eine Kunst, die jeder nachempfinden sollte, auch auf die Gefahr hin, den guten Geschmack jener zu empören, die aufgrund ihrer Bildung über richtig und falsch zu urteilen meinten. Van Gogh hatte diese Überzeugungen mit seinem persönlichen Scheitern bezahlt – sein tragisches Ende ist uns allen bekannt. Aber auch Munch hatte lange Zeit mit den Anfeindungen seiner Landsleute zu kämpfen und litt, wenngleich es ihn am Ende nicht in den Tod trieb, an Phasen voller Depressionen und Ängsten.

 

Links: Edvard Munch. Selbstporträt mit Palette, 1926. © Private Sammlung. Rechts: Vincent van Gogh. Selbstportrait als Maler, 1887-1888. © Van Gogh Museum, Amsterdam.

Nachdem das zugrunde liegende künstlerische Prinzip im ersten Teil der Ausstellung dargelegt wurde, kann sich der zweite, umfangreichere Teil der Gesamtschau auf den Arbeitsprozess und dessen Auswirkungen konzentrieren, durch die es – wie Munch es formulierte – überhaupt möglich war, bis zum Ende mit brennendem Pinsel zu malen. Die Frage der Farbe ist eminent wichtig. Zunächst war es Van Gogh, ein wenig später Munch, der sich aller akademischer „Verpflichtungen“ entledigte, alle Schattierungen der Natur möglichst genau zu imitieren. Der Himmel darf nun grün sein, die Gesichter ebenfalls. Der Erdboden wird in einem Violett dargestellt, ebenso wie die Bäume. Bei Einbruch der Nacht reduziert sich die Formenvielfalt des Tages auf nicht mehr klar unterscheidbare Linien, während sie umgekehrt am helllichten Tag geradezu explodieren.

 

Visuelle Höhepunkte

Um die Wirklichkeit realistisch einzufangen, bedarf es einer klar konturierten Zeichnung, trotz der Übertragung von Farben und Lichtexplosionen auf die Leinwand. Van Gogh hat solche Farbexperimente mit seinen Chinatusche-Studien betrieben, als er seine Linien mit einer Feder oder einem Schilfrohr zog. Munch experimentierte mit Holzschnitten, die nicht weniger bewundernswert waren, und mit Aquarellen voller geschwungener Linien. Auf ihren Papierarbeiten arbeiteten beide die Strukturen ihrer Kompositionen sehr genau heraus. Auf Leinwand hingegen trieben sie sie zu einem Gipfelpunkt.

 

Van Goghs Werke haben diesen Gipfel künstlerischer Ausdruckformen erreicht, seine Bilder aus Arles und Auvers sind legendär. Die gezeigten Werke im zweiten Teil der Ausstellung zeigen dies dem Betrachter mit aller Deutlichkeit, ohne aber zu überraschen. Das Munchs Werke dieselbe Ausdruckskraft besitzen und denselben künstlerischen Höhepunkt wie die eines Van Gogh erreichten, ist in der Kunstwelt noch nicht so lange ein Gemeinplatz – so sehr auch Der Schrei mit seinem blutunterlaufenen Himmel heute ebenfalls als Ikone gilt. Eines der Hauptziele der Ausstellung ist es, die Bandbreite und die Vielfalt der Experimente zu zeigen, an denen sich Munch versuchte, der sich nie mit halben Sachen zufrieden geben wollte. Die Ausstellung zeigt eine Auswahl seiner Werke, die weitab von den Strömungen seiner künstlerischen Zeitgenossen zu verorten sind. 1907 malte er das Bild Cupido und Psyche, in Wahrheit das Bild eines nackten Paares, das einander gegenübersteht. Ihre Körper werden eingefasst von langen groben Pinselstrichen in Grün, Purpur und Rot. Andere Striche, ebenfalls grob aufgetragen, überkreuzen sich im Bildhintergrund – wobei das „Dahinter“ an einen Raum in diesem Bild denken lässt, der aber gar nicht existiert. Der Eindruck, dass etwas Verborgenes, Heftiges, Aufwühlendes aufeinander stößt, wird gänzlich mit den Mitteln der Malerei transportiert.

1907 malte noch niemand so wie Munch oder Van Gogh, nicht einmal die Gruppe Die Brücke – Kirchner, Heckel und all die anderen deutschen Expressionisten. Und das, obwohl sie sich schon 1905 auf Munch und Van Gogh beriefen. In der Tat, das Bild der Schneelandschaft von Munch aus jener Zeit hätte von Van Gogh sein können, so wie das Bild Der Säemann von Van Gogh auch von Munch hätte gemalt sein können. Die wechselseitige Übereinstimmung ist derart frappierend, dass man ihr eigentlich erst dann überzeugt zustimmen mag, wenn man tiefer in die Materie eindringt: Die Sternennacht von Munch aus den Jahren 1922–24 erweist eindeutig der Sternennacht über der Rhône von Van Gogh aus dem Jahr 1888 seine Reverenz. Nicht weniger eindeutig sind auch ihre Übereinstimmungen bei den Porträts: dieselben Formate, dieselbe gedrängte Malweise, dieselbe Distanz gegenüber jedweder Vereinnahmung durch das Malobjekt, dieselbe Bevorzugung für die müden, knöchernen Gesichter mit ihren tiefen Augenhöhlen.

Mit dieser Einsicht kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück: zum absoluten Bekenntnis, die conditio humana, das menschliche Sein und Streben, ungeschönt darzustellen – ihre eigenen Leben eingeschlossen in Form wilder, zerrissener Selbstbildnisse und das ihrer Zeitgenossen auf eine nicht weniger grobe, fast brutal zu nennende Weise.

1908 beschrieb Munch das Wesen der Malerei wie folgt: „Einen emotional mitreißenden Augenblick in einem Bild festzuhalten, indem man einzig nach der Natur arbeitet – das heißt nach der Natur, so wie man sie während dieser besonderen Stimmung  wahrnimmt –, ist eine für die Nerven ausgesprochen anstrengende Tätigkeit. (…) Van Gogh zum Beispiel, und zu einem gewissen Teil auch ich selbst, wir beide haben dies am eigenen Leib erfahren.“

Der erste Teil der Ausstellung war bis zum 7. September in Oslo im Munch Museet zu sehen. Der zweite Teil der Ausstellung wird zwischen dem 25. September 2015 und dem 17. Januar 2016 im Van Gogh Museum Amsterdam gezeigt. Sie umfasst rund 70 Gemälde und 30 Zeichnungen beider Künstler.

www.vangoghmuseum.nl/en/whats-on/exhibitions/munch-van-gogh

 

Übersetzung und Erweiterung des Artikels „Edvard et Vincent aux pinceaux brûlants“ von Philippe Dagen, erschienen am 19.06.2015 in der Le Monde ©
Übersetzer: Marcus Schmitz ©

 

Die Übersetzung, erschienen in der Zeitschrift KulturNetz, finden Sie hier.