Das Bild, das wir Europäer vom Orient haben, ist eine europäische Erfindung des 19. Jahrhunderts. Was aber nicht heißen soll, dass sich der Westen in den Jahrhunderten davor kein Bild muslimischer Völker gemacht hätte. Schon im Venedig des 16. Jahrhunderts wurden in den Ateliers von Gentile Bellini, von Tizian oder Veronese fleißig Sultane auf Leinwände gebannt.
Auch über die Zeichnungen und Gravuren Dürers und seiner Zeitgenossen fanden orientalische Sujets Eingang in die Kunstgeschichte – Abbildungen von Händlern zum Beispiel, oder von den berühmt-berüchtigten Janitscharen, einer Elitetruppe der osmanischen Armee. Im Verlaufe der Jahrhunderte sind derart viele Darstellungen entstanden, die zum Teil auch durch die Berichte von Reisenden und Gesandtschaften genährt wurden, dass diese immer wieder in umfangreichen Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden – wie auch zuletzt in Brüssel im Rahmen der Ausstellung „Das Reich des Sultans. Die ottomanische Welt in der Kunst der Renaissance“, die vom 27. Februar bis 31. Mai 2015 im Palais des Beaux Arts stattfand (www.bozar.be/activity.php?id=11618). Selbst der beträchtliche Umfang der in Brüssel zur Schau gestellten Kunstwerke ist nichts im Vergleich zur Masse von Kunstwerken – Malerei wie auch Radierungen –, die in den Jahrhunderten nach Tizian oder Dürer entstanden sind und in ganz Europa verbreitet wurden.
Die Kolonialmächte – Großbritannien und Frankreich in vorderster Linie, aber auch Italien oder Russland – waren die Hauptproduzenten und -konsumenten dieser Art von Kunst. Mit der
Bezeichnung „Orientalismus“ ist zunächst einmal die Gesamtheit der „visuellen“ Kunstwerke gemeint, sie lässt sich jedoch auch auf die literarischen Werke des gleichen Sujets anwenden, die
nicht weniger massenhaft produziert wurden. Seit dem Ägyptenfeldzug Napoleons um das Jahr 1800 herum hat sich dieses Genre insbesondere durch die Arbeiten Delacroix’ und Ingres’
weiterentwickelt und erlebte in den nachfolgenden Jahrzehnten bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs eine Blütezeit in ganz Europa. In Frankreich überlebte der Orientalismus auch noch bis
in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen – nicht zuletzt aufgrund der besonderen Beziehungen zur damaligen Kolonie Algerien. Die herausragenden Vertreter Frankreichs waren unter
anderem Fromentin, Rochegrosse, Gérôme oder Tournemine. Einer von ihnen, Alphonse-Etienne Dinet, konvertierte um 1900 sogar zum Islam und nannte sich fortan Nasreddine Dinet. Alle waren
auf ihre Art erfolgreiche Vertreter des Orientalismus. Ihre Bilder wurden en masse verkauft und in allen damals verfügbaren Techniken reproduziert.
Dann aber vergaß die Welt diese Künstler und den Orientalismus, der erst wieder in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts quasi wieder entdeckt wurde, als Kunstsammler aus
dem Nahen Osten und den Golfstaaten sich für dieses Genre neu begeisterten und Kunsthistoriker und andere akademische Kreise sich wissenschaftlich damit zu befassen begannen. Eines der am
meisten zitierten kunstwissenschaftlichen Werke der Zeit ist das 1978 erschienene „Orientalism“ von Edward W. Said, einem amerikanischen Gelehrten palästinensischer Herkunft, das zu einem
Standardwerk postkolonialer Studien wurde. Die französische Übersetzung aus dem Jahre 1980 hat den Untertitel „Der Orient, erfunden vom Okzident“. „Erfunden“ – man muss dieses Wort in der
Tat in Anführungszeichen setzen, denn am Anfang der ernsthaften Beschäftigung mit dieser fremden Welt standen nur ein lückenhaftes und zum Teil oberflächliches Wissen sowie
kolonialistische Sichtweisen voller Rassismus. „Eingebildet“ wäre die passendere Bezeichnung gewesen. Die Macht stereotypischer Bilder, die der Westen in seiner Sicht auf die Menschen des
Orients und deren Leben entwickelt hat, ist geradezu überwältigend – und erschreckend einfach, da Männer wie Frauen im Prinzip nur auf zweierlei Art dargestellt wurden.
Bei den Frauen war die Sache ganz einfach: Die Orientalin von Welt wurde als Objekt der Begierde dargestellt, die in aller Regel nackt in einem Harem zu leben pflegte. Sie badete häufig, wurde
dann mit kostbaren Ölen gesalbt oder von schwarzen Sklavinnen gekämmt und gestriegelt, während sie selbst als weiße Herrin dargestellt wurde. Als eine dem Müßiggang frönende Dame langweilte sie
sich häufig und schien deshalb gern zu rauchen, sofern sie sich nicht gleichgeschlechtlichen Freuden hingab. Bei Ingres wurde sie entweder als träge Odaliske, auf einem Ottomanen ausgestreckt,
dargestellt oder als Nackte in Gesellschaft mit anderen nackten Damen in einem türkischen Bad. Sein gleichnamiges Bild „Das türkische Bad“ aus dem Jahre 1862 war durch den Reisebericht „Briefe
aus dem Orient“ von Lady Mary Montagu inspiriert worden, die 1716 ihren Ehemann, einen britischen Diplomaten, auf seinen Reisen durch das Ottomanische Reich begleitete. Ingres’ Absicht war es
weniger gewesen, ein exaktes Abbild der realen Lebenswirklichkeit des Orients zu zeigen, als seinem eigenen obsessiven Bild eines Harems Ausdruck zu verleihen. Und da war er nicht der einzige.
Von Chassériau bis Gérôme und Debat-Ponsan – bei all diesen Malern wimmelte es geradezu von solchen Darstellungen, die dazu beitrugen, ein bestimmtes einseitiges Bild vom Verhältnis zwischen Mann
und Frau der islamischen Welt zu verbreiten. Wie da wären: ein striktes Abschotten der Frau von fremden Blicken, ihre ständige sexuelle Verfügbarkeit oder gar vollkommene Hingabe an die brutale
Lüsternheit des sie besitzenden Mannes. Angesichts der in Massen in solchen Gemälden auftretenden Badenixen mit lasziven Blicken und runden Hüften fallen die wenigen authentischen Darstellungen
der einfachen Landbevölkerung islamischer Länder kaum ins Gewicht.
Die oben geschilderte schematische Darstellung trifft auch auf den orientalischen Mann zu. Der Araber als solcher ist ein wilder Krieger, der sich bis aufs Blut seinen Feinden vorzugsweise unter
Verwendung eines Gewehrs, eines Säbels oder Dolches widersetzt. Den auf diese Weise porträtierten Mameluken eines Antoine-Jean Gros’ oder Goyas folgten später die Löwenjäger von Delacroix und die
Masse turbantragender Reiter von Fromentin, Vernet oder anderen europäischen Malern. Das stereotype Bild des grausamen Arabers hielt sich von wenigen Ausnahmen abgesehen über viele Jahrzehnte.
Delacroix gehört zu den wenigen Ausnahmen, sicherlich auch aufgrund seiner Marokko-Reise 1832, die ihm ein anderes Bild der Lebenswirklichkeit vor Augen führte. Er sah und zeichnete Händler in
ihren Verkaufsständen, konzentriert ins Spiel versunkene Schachspieler oder von Alter und Klima gezeichnete Gestalten, die wie aus 1001 Nacht oder den Sagen und Erzählungen der Antike entsprungen
schienen.
Aber auch bei den weniger stereotypischen Malern dieser Zeit gibt es ein krasses Missverhältnis zwischen der Darstellung friedliebender Szenen und den mit viel Pomp inszenierten Gewaltszenen – wie das „Massaker der Mameluken in der Zitadelle von Kairo“ von Horace Vernet aus dem Jahr 1819 oder der „Überbringer schlechter Nachrichten“ eines Lecomte du Noüy aus dem Jahr 1872. Decamps, ebenfalls ein beliebter Maler zur Zeit des französischen Königs Louis-Philippe, hat einen großen Teil seines Ruhmes dem Bild „Die Hakenfolter“ zu verdanken. Eine grausame Szenerie, die den Schriftsteller Théophile Gautier 1839 zu einer Lobesrede ohne gleichen veranlasste: „Wir sprachen gerade von der türkischen Unbekümmertheit eines Decamps. In der Tat scheint in dieser Darstellung einer abscheulichen Schlächterei die lebendigste, strahlendste und fröhlichste Sonne.“ Anders gesagt: Der Araber ist nicht einfach nur grausam – er ist es in erster Linie aufgrund seines gleichgültigen, in Gewaltdingen unbekümmerten Naturells.
1870 verlieh der Maler Henri Regnault dieser grotesken Überzeugung geradezu exemplarischen Ausdruck in seinem Gemälde „Die Hinrichtung ohne Urteil unter den Maurenkönigen Granadas“. Der
Kopf des Enthaupteten rollt über die Stufen und der Henker wischt sich völlig unbeteiligt die Waffe mit regungsloser Miene ab – der vorgenannten türkischen Unbekümmertheit – sozusagen als
eine Art professioneller und abgestumpfter Gewissenhaftigkeit in der Ausübung seiner Tätigkeit. Die diesem Bilde innewohnende Aussage ist derart vielsagend und diffamierend, dass das
Motiv 2006 in den Medien benutzt wurde, um die Hinrichtungen von Journalisten im Irak durch Islamisten anzuklagen – nicht zuletzt durch den impliziten Vorwurf, der Araber sei ja per se
ein seit Jahrhunderten gewissenloser und kaltblütiger Kämpfer, wie es die europäische Kunstgeschichte glauben machen ließ.
Eine Frage stellt sich zum Schluss: Haben die Produzenten der Bildwerke – Fotos und Filme – des IS, welche die Hinrichtungen und Enthauptungen von westlichen Geiseln zeigen, bewusst die
abscheuliche Ikonographie europäischer Kunstwerke reproduziert? Die meisterhafte Beherrschung dieser Form der visuellen Kommunikation könnte darauf hindeuten, dass ihr Ursprung
tatsächlich im Orientalismus des 19. Jahrhunderts zu finden ist.
Übersetzung und Erweiterung des Artikels „Orient, terre de fantasmes“ von Philippe Dagen, erschienen am 14.02.2015 in der Le Monde ©
Übersetzer: © Marcus Schmitz