Piero della Francesca: Federico da Montefeltro (1465-1466) © Marcus Schmitz

Vom Menschenbilde

 

Nahezu mein gesamtes Leben ist geprägt von Kunst. Mein in frühen Zeiten zunächst unbewusstes Verlangen, die Welt und den Menschen zu verstehen und mich dem Geheimnis des Lebens und dem Schrecken des Todes anzunähern, wurde im Verlaufe der Jahre stärker und trat immer klarer vor Augen. Ich spürte, dass Malerei mehr ist als nur eine spielerische Betätigung in Mußestunden. Ich fühlte, dass ich mit den Mitteln von Farben und Formen eine Welt erschaffen kann, die es zuvor nicht gegeben hat.

 

Sehr früh übte das menschliche Antlitz eine Faszination auf mich aus. Zu den ersten, noch erhaltenen Zeichnungen aus meiner Kindheit gehört eine Serie von Menschenbildern. Die Vorbilder dafür lieferte mir ein Kunstband meiner Eltern, der eine Epoche von über einem halben Jahrtausend der Kunstgeschichte bis in die jüngere Vergangenheit beschrieb. Ich erinnere mich recht genau, wie viel Zeit ich damit zubrachte, über dem Buch gebeugt durch die Jahrhunderte zu blättern und die Gesichter fremder Menschen aus vergangenen Zeitaltern an mir vorüberziehen zu lassen. Was der Auslöser war, dass ich den Schritt vom Schauen zum Nachbilden des menschlichen Gesichts auf Papier vollzog, entzieht sich meiner Kenntnis. Es muss um das neunte oder zehnte Lebensjahr herum geschehen sein. Ich erinnere mich, dass mich das Bild „Federico di Montefeltro“ von Piero della Francesca derart in den Bann gezogen hatte, dass ich während des Nachzeichnens nicht mehr die Stimme meiner Mutter hörte, die mich vergeblich zum Essen rief.

 

Die frühen Vorbilder, die ich in dem besagten Kunstband fand, waren und sind prägend für meine Malerei geworden. Neben den vielen Quellen, Anregungen und Inspirationen, die mir zurückliegende Epochen bieten, sind an vorderster Stelle die Renaissance und die Neue Sachlichkeit zu nennen, denen ich wesentliche Impulse verdanke. Aber auch der Lichtbildkunst, wie ich die Fotografie gern heißen möchte - da ihre Künstler mit Licht ebenso virtuos umzugehen verstehen wie Maler mit ihren Farben -, zolle ich großen Respekt, die so große Menschenbildner wie Hugo Erfurth und August Sander hervorbrachte - weitere Vorbilder, an deren Schaffen ich mich in dunklen Zeiten aufrichte.

 

Auch die Anziehungskraft, die das menschliche Antlitz auf mich ausübt, ist bis auf den heutigen Tag ungebrochen. Was ist der Auslöser für diese Anziehungskraft? Zunächst einmal meine Überzeugung, dass jedes Gesicht etwas Einzigartiges, etwas nie Dargewesenes und sich nie mehr Wiederholendes ist. Ästhetisch gesehen mag es schöne und hässliche Gesichter geben. Aber selbst ein noch so abstoßendes Gesicht ist in der Lage, die Würde und Einzigartigkeit seines Trägers auszustrahlen. Darüber hinaus steht es stellvertretend für den gesamten Menschen, als pars pro toto – weshalb ein Porträt sich an der Herausforderung versucht, die Persönlichkeit der porträtierten Person zum Ausdruck zu bringen. Zusammengefasst möchte ich die Behauptung wagen, dass die Kunst der Porträtmalerei explizit darin liegt, der Würde und Einzigartigkeit des Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ein „Gesicht“ zu geben.

 

Nach Piero della Francesca (Buntstiftzeichnung von 1978)  © Marcus Schmitz

Oft wurde in der Kunstgeschichte die Frage aufgeworfen, was – von der intellektuellen Leistung und der Fertigkeit des Künstlers her betrachtet – das Besondere an einer Porträtmalerei sei, deren Hauptaugenmerk sich ja auf das mehr oder minder genaue Abbild der zu porträtierten Person richtet. In der Gattungshierarchie früherer Zeiten jedenfalls rangierte das Porträt im Mittelfeld, nur dem Genre und dem Stillleben überlegen. Meiner Ansicht nach, und ergänzend zu der oben formulierten These, darf sich die Kunst der Porträtmalerei nicht auf die bloße Nachahmung des Antlitzes eines Menschen beschränken. Diese Aufgabe darf gerne die Porträtfotografie übernehmen.

 

Der Unterschied zur Porträtfotografie ist – auch in einer Zeit, in der sich Künstler vermehrt der digitalen Fotografie als Vorlagen, Vorstufen, Entwürfe für auszuarbeitende Öl-, Acryl- oder in einer anderen Technik ausgeführte Gemälde bedienen – ganz entschieden der, dass das wahrnehmende schöpferische Auge, der abwägende schöpferische Verstand, die gestaltende schöpferische Hand und schließlich die einzigartige und um Unverwechselbarkeit bemühte schöpferische Persönlichkeit des Künstlers selbst aus einer fotografischen Vorlage eine der Würde und der Einzigartigkeit des porträtierten Menschen entsprechendes Abbild erschaffen. Ein Abbild, das sich nicht auf die bloße Reproduktion der Wirklichkeit mit Hilfe der Fotografie beschränkt. Sondern ein durch die Persönlichkeit und die Körperlichkeit des Künstlers verändertes Abbild der Wirklichkeit. Fotorealismus als eine Spielart der Malerei, die fotografisch genauer als die Fotografie selbst sein will, konterkariert im Rahmen dieser Betrachtungsweise die besondere Stellung der Porträtmalerei innerhalb der künstlerischen Ausdrucksformen. Es ist gerade nicht die Vorgaukelung einer Wirklichkeitstreue, die den Betrachter in den Bann zieht. Sondern der Makel, das kaum zu differenzierende Etwas, was den Unterschied zwischen einem gemalten Porträt und der porträtierten Person macht.

 

Das Antlitz des Menschen bleibt eines der unerschöpflichsten Sujets der Malerei. Als Künstler stelle ich mich der Herausforderung, sich der Seele des Menschen mit den Mitteln der Malerei zu nähern, weil dieser Versuch von jeder Generation Maler neu gewagt werden muss.

 

© 2011