Vom Wert der Arbeit – heute wie damals. © Marcus Schmitz

Vom Wert der Arbeit in unserer Gesellschaft

 

An der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit solle man ihre Politik messen, ist das Credo jedes deutschen Kanzlers bei ihren Amtsantritten. Und tatsächlich befindet sich gegenwärtig die Arbeitslosenzahl (2001) unter der von Teilen der Presse und Politik dämonisierten Vier-Millionen-Marke und konnte sogar weiter sinken. Das Tabu, mit dem das Erreichen oder gar Überspringen dieser magischen Marke belegt wurde, erzeugte fast schon eine hysterische Stimmung im Lande, die zu einzelnen Meinungen verführte, die das Aufkommen neuer, insbesondere rechts-extremistischer Tendenzen in Deutschland orakelten. Das Tabu demonstriert darüber hinaus, welchen Stellenwert Arbeit in unserem Lande hat und als wie fatal es angesehen wird, keine Arbeit zu haben.

 

Woher kommt es, dass Sozialwissenschafter, Politiker und die Medien davor warnen, dass eine hohe Arbeitslosenquote in Deutschland – aber auch in anderen vergleichbaren Ländern – dazu führen könne, den Sozialneid und die Fremdenfeindlichkeit weiter anzuschüren? Wenn dem so ist, so scheint es, dass man Arbeitslosigkeit ja allein schon aus Gründen der inneren Sicherheit bekämpfen müsse! Und tatsächlich ist dieses Thema wohl so ernst wie kaum ein zweites. Schaffung neuer Jobs, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und all das, was eng damit verzahnt ist wie Wirtschaft, Wachstum, Konjunktur, Arbeitsplätze schaffende neue Technologien laufen anderen, nicht minder wichtigen Themen schier den Rang ab – sei es Natur- und Umweltschutz, Waffenexporte oder die zunehmende soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Arbeit hat in unserer deutschen Gesellschaft – wie im übrigen in allen weltlichen, westlichen Industrienationen – den Rang einer Ersatzreligion inklusive sinnstiftender Funktion. An nichts mag der westliche Mensch noch glauben: weder an Gott, ans Paradies, noch ans ewige Leben. Doch an Arbeit, an den Sinn, den Arbeit dem Leben eines normalen Menschen gibt, an die Ordnung und Geregeltheit, an das Selbstwertgefühl, das den tätigen Menschen durch seine Arbeit erfüllt, und nicht zuletzt an all das, was sich mit Geld kaufen lässt, das man bei der Arbeit und durch sie verdienen kann: Daran wird mit einer Gedankenlosigkeit geglaubt, die mit einer unausgesprochenen, bejahenden Hingabe das Leben – das tätige Leben wohlgemerkt – akzeptiert und nicht im entferntesten in Zweifel zieht.

 

Ein Mensch, der nicht arbeiten geht, ist entweder noch nicht ins Berufsleben eingestiegen, ein Arbeitsloser bzw. Sozialhilfeempfänger oder aber bereits aus dem Berufsleben ausgeschieden. Ein Mensch, der nicht arbeiten will oder einer privaten Beschäftigung nachgeht, aus der Staat und Gesellschaft keinen Nutzen ziehen, kann es sich entweder finanziell leisten oder wird in der Regel mit einem Sozialschmarotzer gleichgesetzt. Das wirft ein interessantes Licht auf den Komplex: dass nämlich nur diejenige Arbeit in unserer Gesellschaft Respekt und Akzeptanz erfährt, aus der unmittelbar oder im übertragenen Sinne die Gesellschaft Nutzen ziehen kann. Der Stellenwert von Arbeit und die Unantastbarkeit dieses heiligen Wortes sind ein beliebtes Druckmittel in politischen und wirtschaftlichen Kreisen. Im Namen von Arbeitsplätzen wird die Natur zubetoniert oder -asphaltiert, werden Menschen auf der Suche nach Arbeit zu Spielbällen und Humankapital in Händen von global players, wird belogen und betrogen und geschmiert und gekungelt. In einer Gesellschaft, in der ein Mensch mit Arbeit ein Jemand und einer ohne ein Nichts ist, muss es geradezu zu extremistischen Tendenzen kommen, wenn Millionen erwerbslos sind und dies ihr Selbstwertgefühl mindert und – noch viel schlimmer – sie an ihrem Lebenssinn zweifeln lässt. Eine Gesellschaft, in der großen Teilen der Bevölkerung der Lebenssinn abhanden gekommen ist, muss aus den Fugen geraten, wenn diejenigen Teile der Bevölkerung, die ausgeschlossen sind aus der Gemeinschaft der Werktätigen und sich als Menschen zweiter Klasse fühlen, sich erst einmal auf die Suche nach dem oder den Schuldigen begehen, die dieses Elend zu verantworten haben. Die Sprengladung, mit der diese ausgegrenzten Bevölkerungsteile das gesellschaftliche Gefüge zu zerreißen vermögen, ist eine zweifache:

 

1. der Sozialneid auf alle die, die es besser haben als man selbst. Nämlich akzeptierte und respektierte gesellschaftliche Mitglieder in einer Gemeinschaft von Werktätigen zu sein, die überdies noch das so wichtige, nötige Geld verdienen, das dem Leben den eigentlichen Sinn verleiht. Und

2. der Hass auf all diejenigen, denen es eigentlich schlechter als einem selbst gehen sollte, wie Ausländern oder Asylbewerbern, weil sie weniger qualifiziert, weniger deutsch sind und überhaupt weniger Anrecht haben, Mitglied in der Gemeinschaft der Werktätigen zu sein. Und erst einmal arbeitslos, fühlt sich ein untätig daheim sitzender deutscher Ingenieur minderwertiger als jeder arbeitende türkische Gemüsehändler, da ihm sein durch die Arbeit einstmals geregeltes Leben nun aus den Fugen geraten ist.

 

Es ist in dieser Hinsicht nicht der hohe Grad an Arbeitslosigkeit, der für soziale Unruhen oder fremdenfeindliche Tendenzen in einer Gesellschaft verantwortlich zeichnet. Es ist die Überbewertung von Arbeit und Leistung und die Gleichsetzung von menschenwürdigem Leben mit dem Besitz eines Arbeitsplatzes, was in allen weltlichen, westlichen Industrienationen dazu führt, dass sich Menschen ohne Arbeit wertlos, perspektivlos und aus der Gemeinschaft ausgegrenzt fühlen. Und es ist dieses Gefühl der Wertlosigkeit, das sich an den gesellschaftlich noch schwächeren, noch benachteiligteren Gruppen hassvoll entlädt und zu einer Destabilisierung des gesellschaftlichen Gefüges führt.

 

© 2001