Menschenmassen in Museen. © Marcus Schmitz

Masse Mensch

 

Die Wahrnehmung des Menschen eher als massenhafte Erscheinung denn als Individuum ist kein Zeichen der Gegenwart. In der Literatur reichen die Vorbilder zurück in das 19. Jahrhundert, der Zeit der Industrialisierung, Verstädterung, Pauperisierung und der Massenauswanderungen. Zuallererst waren die Städte, das städtische Leben und die städtischen Menschenmassen der Kritik durch Kunst und Literatur ausgesetzt. Zu nennen sind u. a. E. A. Poe (mit seiner Kurzgeschichte „Der Mann der Menge“ aus der 40’er Jahren), Rimbaud und Lautréamont (mit Gedichten aus den 70’er Jahren) oder auch Nietzsche (mit seinen Werken der 80’er Jahre). In der Malerei sind es z. B. Turner oder Menzel, die sich Themen der neuen Zeit widmeten, die da wären: Flüchtigkeit und Hast, Industrieanlagen und Maschinen, städtischer Alltag und Gebrauchsgegenstände.

 

Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die künstlerische Darstellung der neuen Zeit in immer extremerem Sinne. Der Impressionismus ist schließlich die erste rein städtische Kunstform; eine Kunstform, die der neuen Wahrnehmung des Stadtmenschen entspricht. Das Augenmerk fürs Detail, die Einzelheit, das Individuelle, geht verloren und wird ersetzt durch einen nonchalanten, um nicht zu sagen nachlässigen Malstil. Der Impressionismus lässt sich durchaus mit der Fotografie vergleichen - im gewissen Sinne ist er ihr gemaltes Pendant, das die Fotografie beeinflusste, wie er von ihr beeinflusst wurde. Denn genauso wie die Fotografie bildet der Impressionismus nur noch den subjektiven und flüchtigen Sinneseindruck des Betrachters ab - ganz so, als sei nicht genügend Zeit gewesen, sich um Details zu kümmern.

 

Noch aber steht nicht die Masse Mensch im Blickpunkt von Kunst und Literatur, noch gibt es keinen um sich greifenden, echten Ekel vor dem Menschen als massenhafte Erscheinung. Den entscheidenden Impuls zu dieser Entwicklung lieferte der Ausbruch des 1. Weltkrieges, in dem erstmals in der Menschheitsgeschichte binnen kürzester Zeit Aberhunderttausende von Menschen in den Tod getrieben wurden und sich zu einer Bilanz von mehr als 25 Millionen Weltkriegstoten in nur fünf Jahren aufsummierten. Diese Ungeheuerlichkeit an massenhaftem Sterben und Automatisierung der Tötung von Lebewesen grub sich tief in die menschliche Psyche ein und ist seit diesen Tagen ein Teil des Bewusstseins unserer Gesellschaft. Der Weltkrieg, Automatisierung der Arbeitswelt und das Anwachsen von Großstädten zu Millionenstädten schufen geradezu neue Seelenzustände und auch eine neue Klasse von Menschen. Absurdes Theater, Expressionismus und Dada, Jazz, Massenmördertum und Amokläufer, Vermassung von Rauschgiftkonsum sind Zeichen des neuen, des 20. Jahrhunderts.

 

Der schon seit dem frühen Mittelalter bekannte Mythos des Golems - einem aus Lehm geformten, von Menschenhand erschaffenen Kunstwesen - wird in der Neuzeit in Form von Robotern thematisiert. Interessant ist die Auflösung der Grenze zwischen humanoidem Roboter und den automatenhaft schuftenden Menschen, die als Arbeitssklaven in den gigantischen Maschinenhallen des 20. Jahrhunderts Frondienste leisten - wie es in Fritz Langs „Metropolis“ dargestellt wird. Diese Vermischung zwischen Robotern und roboterhaften Menschen wird in den kommenden Jahrzehnten auf die Spitze getrieben. In der Fortsetzung von „Frankenstein“ sind die frühen Zombiefilme (" darunter der Klassiker "White Zombie")  zu sehen, die allerdings noch stark vom karibischen Vodookult und deren Mythen beeinflusst wurden. Anders dagegen der erste in einer sich anschließenden Reihe moderner Zombiefilme, „Die Nacht der lebenden Toten“ von 1968, der - obwohl in s/w gedreht - abschreckend ist in seinem perversen Vergnügen an der Darstellung kannibalistischer und entstellter Untoter. In kaum steigerbarer Brutalität ergeht sich Georg A. Romeros „Zombie“ von 1978, wo Menschen - die hier nur noch Fleischpuppen sind, welche nach Belieben zerschossen, zermatscht oder zerschmettert werden - nicht mehr als Menschen, als in ihrer Integrität oder gar Würde unantastbar gezeigt, sondern nur noch als seelenloses Etwas dargestellt werden.

 

Damit wurde die letzte Stufe erreicht. Von der Achtung des menschlichen Lebens, der Glorifizierung des menschlichen Geistes und dem Wunder von Zeugung und Geburt führte der Weg hinab in eine Zeit, in der der einzelne Mensch in einem Milliardenheer nur noch von statistischer Bedeutung ist und Tod und Leiden des Einzelnen nicht mehr wahrgenommen werden.

 

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